Bist DU das Problem?

Seit vielen Jahren finde ich in Gedichten einen kraftvollen und bewegenden Zugang zu meinem Innenleben. Gedichte auswendig zu lernen, ist eine erfüllende, lebensverändernde Praxis – sie gibt meinem oft zwanghaften mentalen Geschwätz etwas Schönes, auf das ich mich konzentrieren kann. Zu meinen Lieblingsdichtern gehört, wie bei vielen von euch, der persische Mystiker und Sufi Rumi. Eines der ersten Gedichte, das wirklich in meinem Herzen Wurzeln geschlagen hat, ist:


„Du denkst, du bist das Problem“

von Rumi

Du denkst, du bist das Problem,

aber in Wirklichkeit bist du die Lösung.

Du denkst, du bist das Schloss in der Tür,

aber in Wirklichkeit bist du der Schlüssel, der sie öffnet.

Es ist zu schade, dass du jemand anderes sein willst.

Du siehst dein eigenes Gesicht nicht, deine eigene Schönheit.

Und doch ist kein Gesicht schöner als deines.


Lasst uns innehalten und einige der Erkenntnisse und Einladungen in diesen Worten erforschen.

‚Mit mir stimmt was nicht’ 

Viele von uns haben ein inneres Bild von sich selbst, das uns als grundlegend fehlerhaft oder beschädigt darstellt. Vielleicht ist da um 3:00 Uhr morgens beim Aufwachen das flüchtige Gefühl von „etwas stimmt mit mir nicht“, oder das leise Gefühl, nicht wirklich hierher zu gehören. 

In meiner langjährigen Arbeit mit anderen habe ich festgestellt, dass sich hinter der glatten Oberfläche von „Mir geht es gut“ oft eine zarte Unsicherheit verbirgt – eine subtile „Verlegenheit im Dasein“, die anhält.

Und das kann gesund sein. Dieses Gefühl, so unangenehm es auch sein mag, dient oft als existenzielle Motivation, die uns dazu antreibt, unseren Lebensweg zu vertiefen. Schließlich bedeutet Hunger, nach Nahrung zu suchen. Menschen, die diese Art von Unruhe nie verspürt haben, sind oft von ihrer inneren Welt abgekoppelt und manchmal wirklich narzisstisch.

Die gute Nachricht: Ein Anfang, kein Ende

Du denkst, du bist das Problem,

aber in Wirklichkeit bist du die Lösung.

Hier ist die gute Nachricht: Dieses schmerzhafte innere Gefühl der Unzulänglichkeit, des „Nicht-Genug-Seins“, ist zwar oft der Ausgangspunkt, aber es muss nicht das Ende sein. Mit tiefem Zuhören, kluger Unterstützung und etwas Glück können wir es überwinden.

Große Zen-Meister lehren, dass es ohne Täuschung keine Erleuchtung gibt. Dunkelheit und Licht bedingen einander – unsere lichtvolle Natur taucht aus der Dunkelheit auf. Wenn wir das Gefühl loslassen, dass wir das Problem sind, erkennen wir, dass wir die Heilung für die Krankheit sind, die es in Wirklichkeit nie gab.

Wie öffnet sich die Tür?

Du denkst, du bist das Schloss in der Tür,

aber in Wirklichkeit bist du der Schlüssel, der sie öffnet.

Die Tür öffnet sich, wenn wir uns ausdehnen in die Wahrnehmung des größeren Selbst. Dieses größere Selbst ist der Raum, in dem wir unsere gewohnheitsmäßigen Tendenzen – seien es Selbstkritik, Selbstgewalt oder Kritik an anderen – beobachten und entkräften können. 

Was ist dieses „größere Selbst“? Es ist das Bewusstsein, das sowohl mit Klarheit als auch mit Wärme sieht. Unsere historischen Selbstidentitäten – ob positiv, negativ oder neutral – werden von unseren Gedanken und Emotionen getragen. Wir sind so viel mehr als die Stimmen in unseren Köpfen, die Form unserer Körper und die Geschichten, die wir uns selbst erzählen. Können wir all dies mit Freundlichkeit, Neugier und Fürsorge betrachten, ohne uns mit irgendetwas davon zu identifizieren?

Der Fehler, uns mit einem idealisierten Selbstbild zu vergleichen

Es ist zu schade, dass du jemand anderes sein willst.

Dieser Vers ruft eine demütig machende Schwere im Herzen hervor. Wir haben oft ein Bild von unserem idealisierten Selbst – „wer ich ohne meine Probleme bin“ – und projizieren dieses Ideal dann auf andere. Ein großer Fehler! 

Wahre Freude und Lachen kommen auf, wenn wir aufhören, dem Vergleichsspiel zu glauben (vielleicht 10.000 Mal) und uns selbst so akzeptieren, wie wir sind – mit allen Fehlern und Schwächen! Dieses Bewusstsein zu entwickeln, erfüllt von Wärme und Klarheit, frei von Urteilen, ist wiederum der Schlüssel zu dieser Transformation. Die innere Sonne scheint.

Wer bist du wirklich?

Du siehst dein eigenes Gesicht nicht, deine eigene Schönheit.

Und doch ist kein Gesicht schöner als deines.

Beim Lesen kommen mir die Tränen, gefolgt von der vertrauten Versuchung zu sagen: „Aber ich weiß, dass ich nicht so schön bin.“ Ich schaue mein Gesicht im Spiegel an und sehe all die Unvollkommenheiten, Falten, Narben, eine komische Nase … die Liste geht weiter.

DAS ist die tiefe Einladung, mit tiefgreifenden, lebensverändernden Fragen:

– Bist DU wirklich nur dieser Körper und diese gewohnheitsmäßigen Gedanken?

– Bist DU wirklich diese begrenzte, fehlerhafte, verwirrte, problematische Person?

– Kannst DU über diese vergänglichen Merkmale Hinaus sehen, Davor, Danach, in sie HINEIN sehen?

– Bist DU das Problem?

Wenn du dich ausschließlich mit deinem konditionierten Selbst identifizierst – wenn das dein tiefstes Gefühl von Identität ist – dann bist du in der Tat das „Problem“. Wir sind hier, um diesen begrenzten Selbstidentitäten unser liebevolles Bewusstsein zu schenken – um uns um sie zu kümmern und die Schönheit zu entfalten, die sich in ihnen verbirgt.

Wenn du hinter die Fassade blickst, gibt es wirklich kein Gesicht, das schöner (oder weniger schön) ist als das deine.


Dieses Gedicht erinnert uns daran, dass wir nicht die Geschichten sind, die wir uns selbst erzählen, die Rollen, die wir spielen, oder die Urteile, die wir fällen. Wir sind das warmherzige Bewusstsein, das alles zusammenhält – und dieses Bewusstsein ist, wenn es erkannt und angenommen wird, der Schlüssel zu einem Leben in wahrer Freiheit und Selbstakzeptanz.